Ist Heinrich Bölls Literatur unbrauchbar für die heutige Zeit geworden? Ich würde sagen - bis auf wenige Ausnahmen: Nein. Ein famoses Beispiel ist die satirische Erzählung "Doktor Murkes gesammeltes Schweigen" (1955/1958).
Rundfunkredakteur Murke muss aus dem Vortrag des Star-Wendehals-Autoren Bur-Malottke 27-mal das Wort "Gott" herausschneiden und es auf neuerlichen Wunsch des Schriftstellers durch die Phrase "jenes höhere Wesen, das wir verehren" ersetzen.
Das Ganze ist einerseits eine nostalgische Reise in alte Rundfunkwelten. Man arbeitete "beim Rundfunk" wie in einer Behörde, rauchte immer und überall und schnippelte und klebte am guten alten Tonband herum. Auch dem Paternoster-Aufzug hat Böll hier ein literarisches Denkmal gesetzt.
Vor allem ist die kleine Story eine schöne Hommage an das Schweigen. Wörter werden gedreht und gewendet, ausgetauscht und ausgeschnitten, dem Zeitgeist angepasst, "entnazifiziert", korrigiert, "richtiggestellt". Das gilt heute selbstverständlich auch für Bilder. Wir basteln uns unsere Biografien zurecht - nur, dass das heute eben digital und nicht mehr so augenfällig mit Bandschnipelsn geschieht.
Schweigen ist authentisch. Deshalb sammelt Murke die Schweigesekunden, die er aus verlogenen und inhaltsleeren Radiobeiträgen entfernt hat.
"Bur-Malottkes Bänder geben nicht eine Sekunde Schweigen her." Kein Wunder.
Vielleicht ist Schweigen die eigentlich richtige Entgegnung auf die Fragen, die uns quälen. Murkes Bitte an Freundin Rita: "Beschweige mir wenigstens noch fünf Minuten Band." - "Meinetwegen, aber gib mir wenigstens eine Zigarette."
Schade, das heute nicht mehr so viel geraucht, dafür umso mehr gequasselt wird.
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