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Sonntag, 21. Juli 2024

Harry Mulisch: Augenstern

Erzählt mit der faszinierenden Logik eines Traums, schwingt sich diese federleichte Sommerschelmengeschichte zu einem Meisterwerk der Weltliteratur auf.

Der Zweite Weltkrieg ist eben erst vorbei, als sich ein 18-jähriger Niederländer nach Italien durchschlägt. Als Tankwartsgehilfe in Rom trifft er die millionenschwere Mme Sasserath - Witwe des Sicherheitsnadel-Erfinders - die ihn auf ihr Anwesen nach Capri mitnimmt. Großzügig ermöglicht die 87-Jährige ihm in mythisch-mediterraner Umgebung, seinen Traum vom unabhängigen Schriftstellerdasein auszuleben, wenn er ihr im Gegenzug Gesellschaft leistet. Sie erwählt ihn sogar - zum Zorn ihrer Entourage, die in ihm den Erbschleicher sieht - sie auf der Jungfernfahrt im Sessellift auf den Vesuv zu begleiten. Das monumentale Bauwerk (dessen Bauform an eine gigantische Sicherheitsnadel erinnert) hat Madame der Republik Italien soeben spendiert. Der Lift steigt immer höher. Doch plötzlich ist Mme Sasserath spurlos verschwunden.

Mme Sasserath, der er alles zu verdanken hat, verschwindet schnell - ohne, dass ihn das sonderlich schmerzt. Er ist jetzt der Schriftsteller, er schafft das Szenario und lässt die Puppen darin tanzen. 

In unschlagbaren Bildern fasst Mulisch die Jugend. Wer jung ist - es stimmt wirklich - weiß mehr und blickt mehr hinter die Dinge als er es später kann. In einem jungen Mensch steckt alles, jede Idee, jede tiefe Einsicht, von der er je erzählen wird. 

Wer älter wird, wird vielleicht demütiger und gelassener, befolgt Regeln und tut sich leichter, anderen Gedanken näher zu bringen. Vielleicht lernt er auch, Wichtiges vom Unwichtigen zu unterscheiden. Vielleicht. Von alleine geht nichts. Vielleicht bezahlt er auch einen Preis. Sie geht verloren, die taugenichtsige Dreistigkeit. Man könnte sie auch Mut nennen. Einfach hineinspringen. Sich das zu erhalten, ist auch eine Lebensaufgabe. Noch besser ist es, das wie Mulisch (1927-2010) in Worte fassen zu können. 

Und es war alles, alles gut.

Christine Féret-Fleury: Das Mädchen, das der Metro las

Ein zauberhaftes Büchlein, was gar nicht zu sehr an der etwas zusammenhanglosen Rahmenhandlung liegt. Die geht nämlich so: Die introvertierte Juliette steigt auf ihrer Anfahrt mit der paariger Metro zur langweiligen Arbeit als Immobilienmaklerin zwei Stationen vorher aus, gelangt schnurstracks in das Haus eines Büchernarren, der eine Schar von Kurieren auf die Reise schickt. Ihre Aufgabe ist, jedem Menschen das Buch unterzujubeln, das ihr oder sein Leben verändert. Der Agenturchef beispielsweise bekommt Thoreaus Walden, hängt seinen Job an den Nagel und zieht sich in ein abgelegenes Haus am See zurück.

Richtig Spaß aber machen die poetischen, originelle Betrachtungen über Bücher, Lesen und alles, was damit zusammenhängt. Das findet hier weit mehr Platz und liest sich hinreißender als in den meisten anderen Werken dieses speziellen, von mir geliebten Genres. Die Autorin liebt Bücher, o ja.

Über Antiquariate:

„Der Buchhändler hinten in seinem Laden war nichts als ein gebeugter, stiller Schatten, ein grauer Rücken, von einer Asche aus Eintönigkeit bedeckt, vielleicht saß er schon seit Jahrhunderten so da, seit man dieses Haus erbaut hatte…“

Über Bücher 

„… mürrische gelehrte, Verliebte, entfesselte Furien, potentielle Mörder, und zarte Yundi rechten, zerbrechlichen jungen Mädchen, die Hand, Mädchen, deren Anmut mit jeder Wort reichen Beschreibung mehr zu viel. Manche Bücher waren wie stürmische, und rasierte Pferde, die mit einem davon galoppierten, während man sich klopfen, den Herzens an ihre Mähne klammerte. andere glichen Booten, die des nachts friedlich bei Vollmond über einen See glätten. Wieder andere waren wie Gefängnisse.“

Tja, und ich habe dieses Buch übrigens aus einer Kiste „Zu verschenken“ am Straßenrand gezogen. Es war noch ungelesen…