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Freitag, 17. April 2020

David Wheeler: Gartenlektüre

In England ist Gärtnern Kunstform, Philosophie und Lebenseinstellung. Da liegt es auf der Hand: Gartenliteratur ist und kann mehr als Tipps zu Tomatenzucht und Terrassenpflege geben, die schönsten Oster-Dekorationen vorstellen oder einfach das Beiwerk zu stimmungsvollen Bildern in großformatigen Fotobänden liefern. Das beweist seit 1987 die englische Gartenzeitschrift Hortus, deren Herausgeber David Wheeler hier einige besonders gelungene Texte in Buchform präsentiert.

Schon äußerlich ist dieses aufwendig gestaltete Buch mit Leineneinband im Blumenmuster - er erinnert an ein edles Tapisserie-Motiv vergangener Jahrhunderte - ein Schmuckstück. Im Inneren finden sich "Neue Geschichten englischer Gartenenthusiasten". Vor einigen Jahren ist bereits ein Vorgängerband in ähnlicher Ausstattung erschienen.

Die 18 versammelten Texte englischer Schriftsteller und Journalisten haben gemeinsam, dass sie die Garten und das Gärtnern als Anlass für tiefere Betrachtungen nehmen. Mal geht es um die Bewahrung alter englischer Landhausgärten, mal um die Haltbarkeit von Sämereien, mal um den Reiz einer Gartenlandschaft im Winter. Der Nature Writer Richard Mabey wird im Interview zu Klimawandel und der Bedeutung der Natur für den Menschen befragt.

David Wheeler selbst steuert einen Text über den Reiz der öffentlichen Parks in Istanbul bei. Illustratorin Diana Everett lässt an ihrer Leidenschaft für seltene Wildtulpen teilhaben, für die sie sich Jahr für Jahr auf abenteuerliche Reisen in Länder wie Usbekistan und Turmkenistan begibt. Und ein Artikel über die denkmalgerechte Restaurierung des Taj-Mahal-Gartens wird zur Nachdenkerei über den Umgang mit Vergangenheit und Zukunft und das Wesen von Zeit.

David Wheeler: Gartenlektüre. Neue Geschichten englischer Gartenenthusiasten. Prestel Verlag, Oktober 2019. 248 Seiten. 20 Euro.


Montag, 13. April 2020

Yann Martel: Die hohen Berge Portugals


Ein trauriger Mann reist im Jahr 1904 mit dem Automobil seines Onkels von Lissabon in die hohen Berge Portugals. Er hofft, dort einen Schatz zu finden, von dem er im Jahrhunderte alten Tagebuch eines Missionars gelesen hat. Eine Witwe aus den hohen Bergen Portugals besucht spät abends einen Pathologen in dessen Institut und hat die Leiche ihres Mannes im Koffer dabei. Ein kanadischer Politiker beschließt, sein Land zu verlassen mit einem adoptierten Schimpansen in die hohen Berge Portugals zu ziehen.

Drei Handlungen auf drei Zeitebenen verweben sich zu einer. Was die Langsamkeit, das gemächliche, detailversessene Erzählen angeht, ist Yann Marteil ein würdiger Erbe Adalbert Stifters. Langatmiger, fließender geht es kaum. Ob es um die technischen Finessen der damals brandneuen Erfindung Automobil geht, ob die Arbeit eines Pathologin beim Sezieren eine Leiche minutiös beschrieben wird, ob die Zustände in einem Primatenforschungszentrum genauestens geschildert sind. Martels Erzählstil ist geradezu fotografisch genau.

Und es lohnt, sich als Leser durch diesen Brei zu fressen. Wie bei Life of Pi erweist sich das scheinbar Redundante am Ende als fabelhaft durchkomponiertes Ganzes.

Nicht nur die Rolle der Tiere erinnert an Martels großen Roman, der auf deutsch  unter dem Titel Schiffbruch mit Tiger erschien. Wie dieser ist Die hohen Berge Portugals eine Hommage an die Macht der Geschichten und des Erzählens. An einer Stelle erklärt eine Frau ihrem Mann den christlichen Glauben: „Jesus erzählte Geschichten und lebte durch Geschichten. Unser Glaube ist der Glaube an seine Geschichte, und das ist, könnte man sagen, das ganze Geheimnis.“

In Kriminalromanen seien die Geschichten der Opfer erzählt, während die Täter bald wieder vergessen seien, sagt die Frau. So auch im Leben. Hier, in dieser größtenteils himmelschreiend traurigen Handlung, sind fast alle Hauptfiguren Opfer. Und immer wieder gehen diese Menschen rückwärts. Und zwar im wörtlichen Sinn.

Es wird Leser geben, die mit diesem Buch wenig bis gar nichts anfangen können. Und solche wie mich, die ein solch faszinierender Roman wieder daran erinnert, dass das Lesen von Büchern und Geschichten zu den grandiosen Dingen im Leben gehört.

Samstag, 4. April 2020

Ricarda Huch: Der letzte Sommer

Eine leichte Sommergeschichte, die in Wirklichkeit abgründig und tragisch ist - das hat Hakan Nesser nicht erfunden. Ricarda Huch lieferte in dieser 1910 erschienenen Novelle ein grandioses Vorbild.

Russland kurz nach der Jahrhundertwende: Der Gouverneur von Sankt Petersburg verbringt den Sommer mit seiner Frau und den drei fast erwachsenen Kindern Welja, Katja und Jessika auf dem Land. Aus Angst vor Unruhen hat er die Universität schließen lassen. Einige rebellische Studenten wurden hingerichtet.

Weil der Gouverneur einen Drohbrief erhalten halt, dringt seine Frau darauf, ihm einen Beschützer an die Seite zu stellen. Die Wahl fällt ausgerechnet auf den Studenten Lju. Der Anarchist Lju verfolgt den geheimen Plan, den Gouverneur zu ermorden.

Die Novelle besteht aus Briefen der sechs Hauptpersonen. Die Frau des Gouverneurs plagen unbestimmte Vorahnungen, Jessika und Katja verlieben sich in Lju, während dieser im Briefwechsel  mit seinem Kumpanen in Petersburg die Mordpläne immer weiter konkretisiert. Die Stimmung wird bedrohlicher, gereizter und läuft unaufhaltsam auf den Höhepunkt zu...