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Mittwoch, 30. Oktober 2019

John Kaag: Das Bücherhaus

Einer der Schlüsselmomente geschieht kurz vor Schluss dieser autobiographischen Skizze. Ein Gutachter durchforstet die Privatbibliothek des lange verstorbenen Philosophen und Universitätsprofessors William Ernest Hocking (1873-1966) im Hinterland von New Hampshire und taxiert die Bücher nach ihrem miserablen Erhaltungszustand und Marktwert.
 
Der junge Philosophieprofessor John Kaag steht dabei und ist empört: "Philosophie, die gewaltige Liebesbeziehung mit der Weisheit,  auf einen Kalkulationsbogen summiert, zum Zwecke steuerlicher Absetzbarkeit". Immerhin hat er, Kaag, dieses Bücherversteck als 27-Jähriger zufällig entdeckt und mit Erlaubnis von Hockings Erben drei Jahre lang geordnet und katalogisiert. Er hat Nächte zwischen den feuchten Regalen verbracht, vor dem baufälligen Anwesen gezeltet und ist mit Stirnlampe ausgerüstet durch den Stachelschweindreck auf dem Dachboden gekrochen. Dabei hat er Erstausgaben, Manuskripte, Notizen und  Briefe nicht nur Hockings, sondern praktisch aller namhaften Philosophen und Philosophinnen der USA des 19. und angehenden 20. Jahrhunderts geborgen. Ein unermesslicher Schatz, den er vor dem weiteren Verfall retten muss.

In diesem Moment wird klar: Bücher, Texte bekommen ihre entscheidende Bedeutung dadurch, dass sie in Bezug zum eigenen Leben gesetzt werden. Die Gedanken der Philosophen steigen im Wert, wenn sie heute jemanden berühren, ihn zum Weiterdenken bringen, ihm eine Idee über das gute Leben vermitteln, ihm von Gemeinschaft, Freundschaft und Liebe erzählen. Sie können nicht taxiert werden.
 
Diese In-Beziehung-Setzen unternimmt Kaag in diesem Stück Prosa, das eine Episode in seinem eigenen Leben ab 2008 beschreibt. Kaag verwendet persönliche Erlebnisse und Empfindungen als Stichworte, um die philosophischen Schätze der Bibliothek und ihre Urheber vorzustellen. Was hätte Ralph Waldo Emerson in meiner Situation (witzig: Kaag fragt sich das, als er eine Autopanne hat) gedacht? Ging es Henry David Thoreau ebenso? Deckte sich William Ernest Hockings eigenes Familienleben mit seinen philosophischen Entwürfen? Wie lebten und dachten dessen Vorbilder, Zeitgenossen, Nachfolger? Zu Wort kommen neben anderen Charles Sanders Peirce, Josiah Royce, William James, Jane Addams und Walt Whitman. Kaag würdigt ausführlich amerikanischen Pragmatismus und Transzendentalismus. Aber auch Kant und Hegel, Platon und Dante haben ihre Werke in der Bibliothek - und damit ihre Gedanken in diesem Buch hinterlassen.
 
Gleichzeitig beschreibt Kaag sein eigenes Leben. Er schreibt vom Vater, der Alkoholiker war und die Familie verließ. Er schreibt von seiner eigenen Ehe - er hatte in sehr jungen Jahren geheiratet. Die Beziehung belastet ihn, während er viel Zeit in der verfallenen Bibliothek verbringt, schließlich lässt sich das Paar scheiden. Was ihn belastet hat, was nicht stimmte in der Ehe - hier bleibt Kaag sehr vage. Die Handlung mag zwar persönlich angelegt sein, in letzter Konsequenz aber macht der Autor dicht, schließt die Türen. Das gilt auch für Kaags neue Liebesbeziehung zu seiner Philosophenkollegin Carol Hay, die gemeinsam mit ihm die Hocking-Bibliothek katalogisiert und die schließlich seine zweite Frau wird. Immer, wenn es zu persönlich zu werden droht, beginnt der nächste Exkurs und Kaag berichtet aus dem Leben der Philosophen.
 
Insofern gibt das Buch hervorragenden und sehr detaillierten Einblick in die Ideengeschichte der US-Philosophie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Wer sich für diese Thema interessiert, dürfte Das Bücherhaus mit großem Gewinn lesen. Er erfährt auch, was letztlich aus der Bibliothek wurde - denn alles wird an dieser Stelle nicht verraten.


John Kaag: Das Bücherhaus. Eine philosophische Liebesgeschichte. Aus dem Amerikanischen von Martin Ruben Becker. btb 2019. 11 Euro.
 

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