Gegen seinen Willen wurde Hölderlin ins Authenriedsche Klinikum Tübingen eingeliefert. Nach achtmonatiger Behandlung gaben ihn die Ärzte auf. Zum Glück nahm sich der Tübinger Schreinermeister Ernst Zimmer des Poeten an und ließ ihn bis bis zu seinem Tod im Alter von 73 Jahren in seinem Turm wohnen.
Während der letzten Jahrzehnte war Hölderlin ein Schatten seiner selbst: Menschenscheu tigerte er vor dem Turm auf und ab, er schrieb Zusammenhangloses, redete wirr, benutzte Fantasiewörter wie „pallaksch“, titulierte Besucher mit „Majestät“ und „Heiligkeit“. Davon berichteten Literaten und andere Neugierige, die den „wahnsinnigen Dichter“ – so kannte ihn ganz Tübingen – besuchten.
Mit dem Mythos vom „genialen Irren“ will der Pharmakologe Reinhard Horoswki in seiner neu erschienenen Streitschrift „Hölderlin war nicht verrückt“ aufräumen. Er widerspricht der Annahme, die Psychiater bis heute vertreten: der Dichter sei schizophren gewesen. Teils folgt Horowski dem französischen Germanisten Pierre Berthaux, der vermutete, Hölderlin habe als republikanischer Revolutionär seine psychische Erkrankung nur vorgetäuscht, um einer Verfolgung zu entgehen. Aber auch Hölderlins Mutter, die er als geldgierig beschreibt, trägt für Horowski Schuld, dass der Literat als unzurechnungsfähig eingestuft wurde: Sonst hätte sie einen Teil der Stipendien zurückzahlen müssen. Für Verhaltensstörungen, Mattheit und Konzentrationsschwäche des späten Hölderlin findet Horowski indes eine Erklärung: Der Dichter sei im Authenriethschen Klinikum mit einer Überdosis Kalomel fehlmedikamentiert und somit vergiftet worden.
Horowskis Buch trägt Züge einer polemischen Abrechnung mit der Psychiatrie und schießt in seinem pauschalen Urteil gegen einen ganzen Berufsstand mitunter über das Ziel hinaus. Andererseits ist dem Autor eine höchst unterhaltsame und kenntnisreiche Auseinandersetzung mit Leben, Umfeld, literarischer Bedeutung und Wirkung Hölderlins gelungen.
Zeitgleich ist im Tübinger Verlag Klöpfer & Meyer eine Neuauflage des Werks erschienen, das den Mythos vom „wahnsinnigen Dichter“ mitbegründete. Schriftsteller Wilhelm Waiblinger, der Theologiestudent in Tübingen war, ehe er des Evangelischen Stifts wegen Verstößen gegen die Hausordnung verwiesen wurde und nach Rom zog, wo er 1830 mit nur 25 Jahren an den Folgen einer Syphillis starb, legte 1827 die erste Hölderlin-Biografie vor.
In „Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinnn“ schilderte Waiblinger, der Hölderlin vier Jahre lang besuchte und sich liebevoll ihn kümmerte, wie sich der Umnachtete von der Realität entfernte, keinen Gedanken mehr festhalten konnte und den Zugang zur Außenwelt verlor. „Hölderlin schüttelt mich“, schrieb Waiblinger. Ob der jüngere Autor, der sich dem Hyperion-Dichter seelenverwandt fühlte, jedoch als absolut verlässliche Quelle für die Hölderlin-Forschung dienen kann, bezweilfelt Kurt Oesterle in seinem lesenswerten Vorwort: Zu sehr habe Waiblinger eigene Charakterschwächen wie den übergroßen Ehrgeiz auf Hölderlin projiziert. Der mit Tagebucheinträgen, Briefen und Wabilingers Gedicht „An Hölderlin“ ergänzte Band ist dennoch geeignet, einem der größten literarischen Genies auf die Spur zu kommen.
Reinhard Horowski: Hölderlin war nicht verrückt. Streitschrift. Klöpfer & Meyer, Tübingen. 192 Seiten. 20 Euro.
Wilhelm Waiblinger: Friedrich Hölderlins Leben, Dichtung und Wahnsinn. Mit einer Einleitung von Kurt Oesterle. Klöpfer & Meyer, Tübingen. 120 Seiten. 18 Euro.
Erschienen in Schwäbische Zeitung, Mai 2017.