Auf einmal bricht der fremde ältere Herr, der Isabelles Koffer eben noch höflich die Treppe hochgetragen hat, zusammen. „Bitte...“, bringt er noch heraus, dann stirbt er auf dem Bahnsteig in Zürich-Oerlikon. Für Isabelle ändert sich schlagartig alles. Wer war der ältere Herr, worum wollte er sie bitten? Die Altenpflegerin bricht ihre Italienreise ab und sucht Zugang zu dem Mann, der offenbar Kanadier ist, aber eine rätselhafte Schweizer Vergangenheit hat. Gemeinsam mit ihrer erwachsenen Tochter Sarah und Véronique, der Witwe des Mannes, macht sie sich auf kriminalistische Spurensuche, die immer Unerhörteres und Haarsträubenderes zu Tage bringt. Was Jahrzehnte lang vertuscht und verschwiegen wurde, legen die drei Frauen Schicht für Schicht frei.
Sie erleben noch einmal, wie die Schweizer „Armenbehörde“ den unehelich geborenen Jungen der Mutter wegnimmt und ihn als „Verdingbub“ auf einen Bauernhof zu sadistischen Pflegeeltern bringt. Wie sie ihn eines Verbrechens beschuldigen und in ein unmenschliches Erziehungsheim abschieben. Wie ihm schließlich die Flucht in ein fernes Land und eine neue Identität gelingt. Hinter dem idyllischen Alpenpanorama lauern im Roman „Gleis 4“ des 70-jährigen Schweizers Franz Hohler Engstirnigkeit, Verstocktheit und Brutalität. Alles Böse prasselt auf den allein gelassenen Jungen ein. Verbündete findet er erst jetzt, nach dem Tod.
Die distanzierte Erzählweise, die überstrapazierte indirekte Rede, die Behäbigkeit und die Exkurse in eine eiskalte Behördensprache verstärken im Leser den Drang aufzubegehren, sich gegen diese himmelschreiende Ungerechtigkeit zur Wehr zu setzen. Ein hochemotionaler, spannender Sozialkrimi.
Franz Hohler: Gleis 4. Verlag Luchterhand. 220 Seiten. 17,99 Euro.
Erschienen in Schwäbische Zeitung, 23./24. Oktober 2013
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