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Donnerstag, 22. März 2012

Riikka Pulkkinen: Wahr


Die Seele ist ein dichter Wald

Manchmal ist das Leben so leicht: „Regen, Blaubeersträucher im Wald, ein roter Eimer vor der Sauna, das Mädchen im Haus beim Mittagsschlaf." Für Literaturstudentin Eeva ist das Idyll perfekt, wenn sie sich als Kindermädchen um die kleine Familie der erfolgreichen Psychologin Elsa Ahlqvist kümmern darf. Elsa selbst ist viel auf Reisen. Ihr Mann, der Kunstmaler Martti und die kleine Tochter Eleonoora lieben Eeva. Und Eeva liebt die beiden über alle Maßen. Viel mehr, als gut für sie und die Familie Ahlqvist wäre.

Jahrzehnte später gehen schwarze Schatten um: Elsa hat Krebs im Endstadium. Ihre Enkelin Anna, die sich so gerne fiktive Lebensgeschichten für Passanten ausdenkt, findet ein vergessenes Kleid im Schrank – Eevas Kleid. Für Anna ist das die Initialzündung, das verdrängte Familiengeheimnis um das Kindermädchen Schicht für Schicht freizulegen. Dabei gewinnt sie einen ganz neuen Blick auf ihren Großvater Marttii, ihre Mutter Eleonoora, die Großmutter Elsa und auf sich selbst.

Die Finnen reden nicht viel, heißt es. Und reden sie doch, so haben sie zuvor gründlich nachgedacht. Auf die Figuren in Riikka Pulkkinens Familiensaga trifft das voll und ganz zu. Sie denken und fühlen ausgiebig und sagen ab und zu ein bedeutungsschwangeres Wort, über das sie dann wieder ganz lange nachdenken.

Die 31-jährige Pulkkinnen, deren zweiter Roman „Wahr" in Finnland gefeiert wird, steigt ganz tief hinunter in Gefühls- und Seelenwelten jeder einzelnen Figur. „Die Beziehungen zwischen Menschen sind wie dichte Wälder", lässt sie ihre Hauptfigur Anna sagen. Keine leichte Kost, aber ein eindringlicher Roman über die ganz großen Themen: Kranksein, Sterben, Familie und Freiheit. Vor allem über die Liebe.

Erschienen in Schwäbische Zeitung, 21. März 2012

Samstag, 17. März 2012

Sebastian Haffner - Ein Mitgenommener über seine Zeit

Sebastians Haffners posthum veröffentlichte „Geschichte eines Deutschen: Die Erinnerungen 1914-1933“ (Eine etwas ältere Kritik von mir, aus dem Jahr 2001)


Die Zahl der Werke, die uns erklären, wie Deutschland zu seinem Nazi-Regime kam – warum es so und nicht anders hat kommen müssen – ist groß. Viele dieser Erklärungsversuche lassen beim Leser nicht mehr als den Gedanken zurück, dass man hinterher eben immer klüger ist.

Für Sebastian Haffners Erinnerungen, die der Sohn des 1999 verstorbenen Publizisten posthum veröffentlichte, kann dieser Einwand nicht gelten: Sie entstanden im Jahr 1939, auf dem Höhepunkt der Nazi-Gräueltaten und am Vorabend des Zweiten Weltkrieges. Haffner weiß, wovon er redet. Denn er erzählt von seinem eigenen Leben. Es ist das Leben eines Heranwachsenden, der die geschichtlichen Umwälzungen mal mehr, mal weniger intensiv am eigenen Leibe erfährt. Eines 7-jährigen, dem der Kriegsausbruch 1914 seinen geliebten Sommerurlaub in Hinterpommern verdirbt. Eines Jungen, der den Krieg als ein aufregendes Spiel erlebt: Begeistert studiert er die neuesten Frontnachrichten und Gefangenenstatistiken, vom baldigen „Endsieg“ mehr als überzeugt.

Dann der Schock, die ungeheurliche Enttäuschung, als das Unfassbare eingetreten, der Krieg verloren ist. Das Inflationsjahr 1923 konfrontiert den Jugendlichen mit dem Zusammenbruch aller Lebensregeln, dem „Bankrott von Alter und Erfahrung“, mit Hunger und Armut, während er in der allgemeinen Weltuntergangsstimmung die Spekulanten aufsteigen und die Vergnügungssucht blühen sieht

Der Krieg und die Inflation – für Haffner die prägenden Erlebnisse einer Generation. Auf sie kommt er immer wieder zurück, wenn er das unaufhaltame Schlittern eines entwurzelten Volkes in den Abgrund schildert. Reichstagsbrand, Judenboykott und totale Überwachung – als die Nazi-Revolution schließlich „wie ein Giftgas durch alle Wände dringt“, sieht der junge Mann die Flucht aus Deutschland als einzigen Ausweg. Haffner macht es sich nicht leicht. Er zeigt nicht mit dem Finger auf irgendwelche Bösewichte, die das Verhängnis alleine zu verantworten hätten. Wenn er seinen persönlichen inneren Kampf schildert, versucht er die wahren Gründe für Rassenhass, Fanatismus und Mitläufertum auszumachen, nicht ohne sich dabei selbst anzuklagen. Haffner wird niemals dogmatisch, seine Überlegungen zeugen vielmehr von der scharfen Beobachtungsgabe desjenigen, der bitter an seiner Zeit und ihren Grausamkeiten leidet.

Haffners Sprache ist nicht blumig oder geschliffen sondern bleibt einfach und vertrauenswürdig, besonders, wenn von persönlichen Erlebnissen die Rede ist. Etwas holprig drückt sich der ausgebildete Jurist lediglich dann aus, wenn er daran geht, einige seiner Überlegungen umständlich zu rechtfertigen. Dem Leseerlebnis tut dies keinen Abbruch, denn der Leser nimmt ihm die Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit seines Unterfangens jederzeit ab.

Bemerkenswert sind Haffners Porträts zeitgeschichtlicher Persönlichkeiten. Die Wirkung Rathenaus auf die Massen vergleicht er mit einem „Magnet in einem in einem Haufen von Eisenspänen – genau so unvernünftig, genau so unentrinnbar, genau so unerklärlich“. Ähnliche Faszination habe nur Hitler, der Mann mit der „Zuhälterfrisur“, dem „Epileptikergehaben“ dem „Geifer, dem abwechselnd flackernden und stieren Blick“ erregen können: Was dem einen „durch seine unfassliche Kultur“ gelang, vermochte der andere „durch sein unfassliche Gemeinheit“. Ironisches schimmert in der Darstellung des unauffälligen Politikers Stresemann durch. Überhaupt ziehen sich Ironie, auch Selbstironie, und ein gewisser Galgenhumor durch das ganze Werk.

An anderen Stellen bricht die blanke Wut aus dem Autor heraus: über die Untätigen, die Mitläufer, die Feiglinge, bisweilen auch über sich selbst. Im Jahr 1933, mit dem die Darstellung endet, sieht Haffner den Prozess der totalen Infiltrierung schon abgeschlossen. Der Verfasser hat den Krieg unmittelbar vor sich, wenn er 1939 prophezeit, dass die Nazigräuel „zu einer Menschheitskrise allerersten Ranges führen, in der die physische Fortexistenz der Gattung Mensch in Frage gestellt“ ist, und „in der wahrscheinlich nur noch ungeheuerliche Mittel wie die physische Destruktion aller mit dem Wolfsbazillus Behafteten Rettung bringen könnten.“

(Rezension vom Sommer 2001, Bernhard Hampp)

Dienstag, 6. März 2012

Oliver Bottini: Der kalte Traum

Ein junger kroatischer Soldat presst einem serbischen Alten voll Zorn die Pistole an die Schläfe. Dieses Foto ist vor 17 Jahren in einer Lokalzeitung erschienen. Es geht der deutschen Journalistin Yvonne Ahrens nicht aus dem Kopf. Sie macht sich in Zagreb auf die Suche nach dem unbekannten Krieger und bringt damit einen Stein ins Rollen, der alle Figuren in Oliver Bottinis Jugoslawien-Thriller „Der kalte Traum“ mitreißt: Ahrens selbst, den planlosen Berliner Ermittler Adamek, den gescheiterten Ex-Diplomaten Ehringer, den ein Verkehrsunfall vom Macher zum Pflegefall herabgewürdigt hat, den kroatischen Geheimdienstler Jordan, für den die Welt nach Jahrzehnten des Kriegs „karstig und sinnentleert“ ist, den Söldner Marx, der ohne Krieg nicht leben kann, den gutbürgerlichen Schwaben Milo Cavar, dessen Bruder Thomas seit 1995 in einem Massengrab in Bosnien liegt – oder doch nicht?

Alle werden im Lauf der aufreibenden Story auf irgendeine Weise Opfer jenes Krieges, der Europas Südosten ein Jahrzehnt lang in Blut tauchte, Nachbarn über Nacht zu Todfeinden machte und – so zeigt Bottinis Roman – auch im Jahr 2010 noch nicht vorbei ist. Nach und nach enthüllen sich Zusammenhänge, kommen immer grausigere Geschehnisse ans Tageslicht. Krimiautor Bottini lässt diesmal erstmals nicht die Freiburger Kommissarin Louise Bonì ermitteln, sondern schafft ein bedrückendes und hochspannendes Panoptikum von Getriebenen und Getretenen. Der Roman jagt den Leser aus dem „sanftmütigen Tal“ um Rottweil ins abweisende Berliner Betongedränge, vom Brandenburger Kranichzuggebiet zu den Schlachtfeldern von Vukovar und Srebrenica. Erzählebenen fließen ineinander über, Zeiten und Perspektiven sind verwoben, die Figuren stimmig und scharf gezeichnet.

Aber: Wer nicht wenigstens ein Grundinteresse für die Umwälzungen auf dem Balkan mitbringt, wird seine Mühe haben. Extrem detailversessen leuchtet Bottini den Konflikt in all seinen Verästelungen und Widersprüchen aus. Ein extrem sinnloser Krieg, in dem es kein Gut und Böse gab, auch wenn alle Beteiligten überzeugt waren, auf der Seite der Guten zu stehen.

Erschienen in Schwäbische Zeitung, 3. März 2012