Donnerstag, 17. März 2022

Hubert Lampo/Pieter Paul Koster: Artus und der Gral

Seit meiner Schulzeit sammle ich Bücher zur Artussage und dem Gralsmythos. Das hier ist ein besonders schönes Stück in meiner Sammlung, das ich nun noch einmal gelesen habe. 

Ansehnlich ist das 1985 erschienene Buch (diese Ausgabe: 1993) vor allem durch die edle  Gestaltung. Kosters stimmungsvolle Fotografien von Wäldern, Küsten, Felsen im Nebel, Burgzinnen im Nebel, und Sonnenuntergängen mit und ohne Nebel führen die Schauplätze der Sage vor Augen. Als Bildunterschriften dienen Zitate aus Thomas Malorys Le Morte d'Arthur, die einmal kursorisch durch den berühmtesten aller Artus-Romane führen.

Schwer getan habe ich mir mit dem (schick weiß auf schwarz gedruckten) Text, einem Essay des belgischen Schriftstellers Hubert Lampo. Seine Gedanken zur Artussage sind nur für diejenigen nachvollziehbar, die sich bereits gut mit dem Stoff auskennen - einen Überblick für Einsteiger bieten sie nicht. Gleichzeitig ist aber auch nichts wirklich Neues vorgebracht.

Lampo beschäftigt sich sehr umfassend mit verschiedenen literarischen Zeugnissen. Manchmal tut er das in launigem, originellem Ton, meist aber recht akademisch trocken. Letzteres gilt besonders für seine abschließenden Ausführungen zum Jungschen Archetypen und dem Mythos an sich.

Er führt Belege auf, dass Artus wirklich als britisch-römischer Heerführer existiere, ruft die altbekannten, möglichen Schauplätze wie Tintagel (Artus‘ Geburt), Cadbury (Camelot) und Glastonbury (Avalon) ins Gedächtnis. In einem zweiseitigen Anhang sind die mutmaßlichen Artus-Orte in Fotografien abgebildet (siehe Foto). 

Interessant und aktuell sind die Gedanken, die sich Lampo zum siechen König macht, der (von der alles entscheidenden) Frage geheilt werden muss, oder aber (in anderen Bearbeitungen des Stoffes) Platz für einen vitaleren, vatermordenden Nachfolger machen muss - weil sonst das ganze Land siecht und zugrunde geht. Der kranke Herrscher, dessen Zeit vorüber ist, und der Unheil über das ganze Land bringt: Eine Metapher, die jetzt, im März 2022, da der Ukraine-Krieg tobt, aktueller denn ist. 

Sonntag, 27. Februar 2022

Siegfried Lenz: Die Maske

Fünf - zumeist maritim angehauchte - Erzählungen sind in diesem Band aus dem Jahr 2011 versammelt. Menschen kollidieren hier teilweise mit der Naturgewalt, viel öfter aber mit ihresgleichen, ihren eigenen Erwartungen und Beschränkungen.

Antonia mit dem blauen Schal ist ein Gemälde, zu dem ein Museumswärter eine sehr - viel zu - enge Beziehung aufbaut, mit allen Konsequenzen. 

Die Maske: Auf einer Insel in der Elbmündung wird nach einem Sturm ein Überseecontainer mit asiatischen Masken angeschwemmt, die für das Völkerkundemuseum  Hamburg bestimmt sind. Im Gasthaus "Blinkfeuer" feiern die Inselbewohner, setzen die Masken auf, die interessanterweise auf einmal ihr wahres - oder zumindest interessantes und liebenswertes - Gesicht offenbaren.

In Die Sitzverteilung wird ein Kapitän geehrt, weil er sein sinkendes Schiff als letzter verlassen hat - allerdings nichts aus hehren Motiven.

In Ein Entwurf erzählt ein Autor seiner Frau die Lebensgeschichte des zur See fahrenden gemeinsamen Sohnes Sven (über den erst im letzten Satz Bedrückendes ans Tageslicht kommt).

Das Interview ein Ehemaliger Obdachloser kreiert für eine Catering-Firma Menüs auf eigens organisierten Feinschmecker-Kreuzfahrten. Diese Geschichte ist leider reichlich ungelenk in eine Rahmenhandlung geschachtelt, in welcher Erzähler berichtet, wie er ein Interview mit dem Regisseur geführt hat, der diesen Stoff verfilmt hatte. Ja, genau so.

Alle Erzählungen bezaubern durch geschickte Wendungen, und Lenz‘, man muss sie so nennen, schöne Sprache.

Freitag, 25. Februar 2022

Michelle Gable: The Bookseller's Secret

 

Dieser Unterhaltungsroman nähert sich der historischen Persönlichkeit Nancy Mitford - Schriftstellerin und eine der skandalumwitterten Mitford-Schwestern. Ihr Leben wird von 1942 bis 1946 in Rückblicken erzählt.

Eingebettet ist das Ganze allerdings in eine recht banale Rahmenhandlung in der Jetzt-Zeit. Eine US-Schriftstellerin hat sich von ihrem langjährigen Partner getrennt, leidet unter einer Schreibblockade und nimmt eine Auszeit bei einer ehemaligen College-Freundin in London. In einem Buchladen - demselben, in dem Nancy Mitford während des Zweiten Weltkriegs arbeitete, trifft sie einen attraktiven Lehrer, mit dem es nicht nur funkt, sondern an dessen Suche nach einem verschollenen, autobiographischen Mitford-Manuskript sie ihn auch gerne unterstützt.

Im Buch finden sich einige unterhaltsame Passagen, aber als Büchermensch, der Bücher über Bücher liebt muss ich sagen: Der Titel verspricht mehr, als er hält.

Dienstag, 15. Februar 2022

Karl Reichle: Überlass dich Ebbe und Flut

Ein liebenswerter Fund, dieses Buch mit Nachdenkereien über das Reisen, die der (laut Google) Pfarrer Karl Reichle 1983 verfasst hat. Was ist der Sinn des Urlaubs, wie kann er uns reicher machen, wie können wir ihn sinnvoll gestalten? Wie kostbar und unverzichtbar das Reisen ist, haben wir in dieser Pandemiezeit ja schmerzlich erfahren.


In seinen Betrachtungen regt Reichle an, mit offenen Augen durch die Welt zu gehen, Kirchen, Burgen und Städte neugierig zu entdecken. Lernen, Nachdenken und Weiterdenken. Essen und Trinken, Feste besuchen, Fundstücke und Erinnerungen sammeln. Es gilt, schon die Reisevorbereitungen mit viel Zeit zu genießen und danach die Erinnerungen als Schätze zu hüten. Oder Orte mehrmals im Lauf des Lebens zu besuchen. 

Mit der Zeit ist es freilich so eine Sache. Dieses Buch, Anfang der Achtzigerjahre erschienen, scheint viel mehr aus der Zeit gefallen als viel Älteres, etwa Merian-Hefte aus den Fünfzigern, die einfach alte, ferne Literatur sind. Reichles Buch ist auf eine andere Art überholt, hat eine seltsame Patina angesetzt - ja, so ist es wohl einmal gewesen - die vor Augen führt, dass seit seinem Erscheinen eine regelrechte Zeitenwende stattgefunden hat. Nur ein Beispiel: Zur Wahl des Urlaubsort schreibe man, so der Autor „An den Verkehrsverein“ und „An das Bürgermeisteramt“ und lege einen frankierten Rückumschlag bei, um ein Unterkunftsverzeichnis zu erhalten. Aus diesem wiederum schreibe man fünf Adressen an, wieder mit frankiertem Rückumschlag… Nicht nur der Umgang mit Zeit war damals ein anderer.

Dennoch ein echtes Vergnügen. Bruce Chatwin hat ähnliche Betrachtungen über das Reisen an sich verfasst, die große Klassiker geworden sind. 

Mittwoch, 26. Januar 2022

Franz Grillparzer: Der arme Spielmann

Franz Kafka soll diese 1848 veröffentlichte Erzählung so oft gelesen haben, dass er sie beinahe auswendig kannte. 

Packend porträtiert Grillparzer einen Menschen, der sich die Welt so einrichten möchte, dass er sich dort wohlfühlen kann - wie er sie gerne hätte, sie aber nicht ist. Er würde so gerne nach seinem eigenen Rhythmus und - langsameren - Tempo leben, doch das passt nicht zur Musik, die seine Mitmenschen machen. Er wird ausgenutzt und lächerlich gemacht, seine reine, unschuldige Seele macht ihn kaputt.

Darum geht es: Der Erzähler beobachtet am Rande eines Wiener Volksfestes einen alten Bettelmusikanten. Was der abgerissene Spielmann seiner Geige entlockt,  „schien eine unzusammenhängende Folge von Tönen ohne Zeitmaß und Melodie“. Der von allen Verspottete, offensichtlich Unmusikalische spielt allerdings völlig untypisch mit Notenpult und Notenblatt und  murmelt lateinische Worte vor sich hin - so weckt er die Neugier des Erzählers, der ihn zu Hause besucht. 

Dort lauscht er erneut dem ungeschickten Spiel des Alten, der völlig in seine Musik vertieft ist.  Langsam glaubt er, das System hinter der scheinbaren Kakophonie zu erkennen:

"Der Alte genoß, indem er spielte. Seine Auffassung unterschied hierbei aber schlechthin nur zweierlei, den Wohlklang und den Übelklang, von denen der erstere ihn erfreute, ja entzückte, indes er dem letztern, auch dem harmonisch begründeten, nach Möglichkeit aus dem Wege ging. Statt nun in einem Musikstücke nach Sinn und Rhythmus zu betonen, hob er heraus, verlängerte er die dem Gehör wohltuenden Noten und Intervalle, ja nahm keinen Anstand, sie willkürlich zu wiederholen, wobei sein Gesicht oft geradezu den Ausdruck der Verzückung annahm. Da er nun zugleich die Dissonanzen so kurz als möglich abtat, überdies die für ihn zu schweren Passagen, von denen er aus Gewissenhaftigkeit nicht eine Note fallen ließ, in einem gegen das Ganze viel zu langsamen Zeitmaß vortrug, so kann man sich wohl leicht eine Idee von der Verwirrung machen, die daraus hervorging.

Der Musikant beginnt zu erzählen, von einer unverstandenen Kindheit, lebenslangen Niederlagen, unerwiderter Liebe, schmählichem Betrug und immer tieferer Flucht in die Musik. Definitiv eine Erzählung, die lohnt, sie wieder und wieder zu lesen. 

Samstag, 22. Januar 2022

Leo Tolstoi: Im Schneesturm

Noch eine ordentliche Portion Winter gefällig? Wie wäre es damit: Ein Reisender in der russischen Steppe möchte mit der Pferdekutsche von einer Poststation zur nächsten gelangen. Ein Schneesturm hat die Landschaft fest im Griff, macht Orientierung und Fortkommen immer schwerer. Dann gibt der wortkarge, völlig überforderte Fuhrmann auf. Der Reisende steigt um, fühlt sich zwischen den tanzenden Wänden aus Schnee immer mehr verloren, die Grenzsituation ängstigt, fasziniert ihn aber auch. Langsam wird es Nacht. 

Diese Erzählung kommt ohne unerhörte Begebenheit aus. Zum Meisterwerk macht sie die verwunschene, bedrückende, surreale Atmosphäre, die ein verschneites Zwischenreich - was ist noch Wirklichkeit, was Traum? - heraufbeschwört.

Donnerstag, 13. Januar 2022

Gerhard Jäger: Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod

 

Die Geschichte klingt nicht neu: Ein junger Historiker aus Wien zieht sich über den Winter in ein abgelegenes Tiroler Bergdorf zurück, um an einem Roman zu schreiben. Die Dorfbewohner nehmen ihn mit größtem Misstrauen und Ablehnung auf. Erst nach und nach scheint der Fremde, zaghafte Freundschaften zu schließen, eine stumme Frau, die alleine in ihrem Bauernhof lebt, zieht ihm besonders an. Der Winter entpuppt sich als schlimmster Schnee - und Lawinenwinter seit Menschengedenken, Häuser und Höfe werden verschüttet, Menschen sterben, das Dort ist komplett von der Außenwelt abgeschnitten. Da geschieht ein Mord.

Die Geschichte ist in eine Rahmenhandlung eingebettet, in der ein 80-jähriger US-Amerikaner in Archiven und Originalschauplätzen das Schicksal seines Vetters, des Historikers Max Schreiber, recherchiert.

Der Roman erinnert in vielem an Robert Schneiders Schlafes Bruder von 1992, erreicht mitunter auch dessen sprachliche Wucht. Wie schon bei diesem - allerdings bild- und vor allem klangstärkeren - Vorbild, drängt sich die Frage auf: Wo ist die Grenze zwischen dem Archaisch-Alpinen und dem leeren Pathos, zwischen Märchen und Kitsch, zwischen Mythos und Klischee? Jägers Lawinenepos läuft ständig Gefahr, hier abzugleiten. Dennoch eine interessante, über weite Strecken sehr unterhaltsame Winterlektüre.